Gründung und Geschichte

Partnerschaftlicher und kritischer Dialog seit mehr als drei Jahrzehnten

Eine kleine Geschichte des Landesverbands Gemeindepsychiatrie Baden-Württemberg e. V.

Als Gründungsdatum des „Landesverbands Gemeindepsychiatrie Baden-Württemberg e. V.“ gilt der 01.12.1990. Genau genommen beginnt die Geschichte aber im Jahr 1984, als in Tübingen ein erstes Treffen der baden-württembergischen Mitglieder des Dachverbands Psychosozialer Hilfsvereinigungen – heute Dachverband Gemeindepsychiatrie – stattfand. Es war der Beginn einer regelmäßigen Zusammenarbeit, die schließlich zum Beschluss der Vereinsgründung führte. Mit diesem Schritt sollte unter den Hilfsvereinen sowie den Selbsthilfe- und Bürgerhelfergruppen ein tragfähiges Netzwerk entstehen, das die örtlichen Initiativen stärkt und ihnen auf Landebene eine (fach-)politische Stimme mit Gewicht gibt.

Die Entscheidung für den Begriff Gemeindepsychiatrie steht für einen sozialraumorientierten Blick auf die Situation einer Region, der die Aufmerksamkeit nicht allein auf die psychiatrischen Institutionen richtet, sondern Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige, Selbsthilfegruppen, freiwillig Engagierte, Bürgerinitiativen u. a. m. einschließt. Ein solches offenes Grundverständnis soll sich auch in der Vorstandsarbeit widerspiegeln. Bis heute sieht die Satzung des Landesverbands Plätze im Vorstand für Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Bürgerhelfer*Innen vor.

So hat der Landesverband Gemeindepsychiatrie auch von Anfang an die Initiative zur Selbstvertretung der Psychiatrie-Erfahrenen unterstützt und stand hilfreich Pate bei der Gründung der Landesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener 1993, aus der später der „Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg e. V.“ hervorging.

Der Landesverband Gemeindepsychiatrie versteht sich als fachpolitische Lobby. Durch seine Aktivitäten will er daran arbeiten, Vorurteile gegenüber psychischen Erkrankungen abzubauen, bessere Lebens-, Arbeits- und Therapiebedingungen für psychisch erkrankte Menschen zu schaffen, sowie mehr Mitsprache und Mitverantwortung zu erreichen mit dem Ziel einer möglichst umfassenden Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben.

Als Vereinsziele sind in der Satzung des Landesverbandes u. a. Aufklärung der Öffentlichkeit und Abbau von Vorurteilen verankert. In diesem Sinne hat er schon sehr frühzeitig die Initiative der World Federation for Mental Health (WFMH) aus dem Jahr 1992 des „Welttags für seelische Gesundheit“ jährlich am 10. Oktober aufgegriffen, die insbesondere die Entstigmatisierung und die Sicherung der Rechte psychisch erkrankter Menschen zum Ziel hatte. In einem jährlichen Aufruf, der durch das Sozialministerium unterstützt wird, greift der Landesverband Gemeindepsychiatrie das jeweils von der WFMH vorgegebene Motto auf. Inzwischen ist der Welttag ein bekanntes Datum mit wachsender öffentlicher Aufmerksamkeit. Jedes Jahr finden eine Fülle von regionalen Aktivitäten rund um die Themen psychische Gesundheit, Versorgung und Prävention statt.

Informationsaustausch und Qualifizierung waren schon seit den ersten Landestreffen zentrale Anliegen der Beteiligten. Bereits vor der Gründung des Landesverbandes wurden Jahrestagungen abgehalten. Den Anfang markiert im Jahr 1985 der erste landesweite Erfahrungsaustausch für „Laienhelfer“ in Esslingen. In den Folgejahren haben sich die jährlichen Regio-Tagungen zu einer bekannten Marke entwickelt. Und bereits seit 1993 organisieren die Landesverbände Psychiatrie-Erfahrener (LVPEBW e. V.) und Gemeindepsychiatrie die Regio gemeinsam. Wir sind stolz darauf, dass dieses ganz besondere Modell zu einem echten Erfolgsformat geworden ist. Unter den ca. 150 Teilnehmern, die jedes Jahr dabei sind, finden sich gleichermaßen Psychiatrie-Erfahrene und Vertreter gemeindepsychiatrischer Einrichtungen, aber auch Angehörige und interessierte Bürger. Bei der Regio 2022 in Reutlingen ist erstmals auch der Landesverband Baden-Württemberg der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e. V. (LV BW ApK) als Mitveranstalter aufgetreten. (Liste aller bisherigen Regio-Themen)

Mit der Tradition der Regio-Tagungen, in Baden-Württemberg aktuelle Themen aufzugreifen und dabei auch politische Akzente zu setzen, hat sich die jährliche Veranstaltungsreihe zu einer Art Identitätskern des Verbandes entwickelt. Inzwischen endet jede Regio mit einem gemeinsamen politischen Statement der Veranstalter, mit dem auch über den Tag hinaus fachliche Wirkung erzielt werden soll. So mit dem „Manifest zum verantwortungsvollen Umgang mit Psychopharmaka in der psychiatrischen Versorgung“, mit dem Aufruf „Krisen- und Notfalldienste sicherstellen!“ und 2022 mit dem Impulspapier „Die Verwirklichung von Inklusion braucht weitere Anstrengungen!“.

Mit einer Anfang der 90-er Jahre gestarteten Initiative war der Landesverband auch mitverantwortlich für die landesweite Etablierung von unabhängigen Beschwerdeinstanzen. Der von Dr. Inge Schöck initiierte und geleitete offene Arbeitskreis hat den Weg geebnet für den Aufbau dieses wichtigen Elements zur Qualitätskontrolle. Durch die Einbindung des Landesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen erhielten die Bestrebungen zusätzliches Gewicht. Mitentscheidend für den letztendlichen Erfolg war allerdings, dass diese Idee die Unterstützung der damaligen Sozialministerin Helga Solinger fand. Am Ende stand die landesweite Einrichtung von Informations-, Beratungs- und Beschwerdestellen (IBB-Stellen), die sogar 2014 Eingang in das „Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten“ (PsychKHG) des Landes Baden-Württemberg gefunden haben. Die Patientenfürsprecher und IBB-Stellen haben sich zu einem vom Sozialministerium anerkannten Arbeitskreis zusammengeschlossen, der Mitglied im Landesverband Gemeindepsychiatrie ist.

Die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements in der Psychiatrie ist ein besonderes Anliegen des Landesverbandes Gemeindepsychiatrie. Ehrenamtliche Helfer sind Brückenbauer hin zur Gesellschaft und Begleiter auf dem Weg über die Brücke. Sie können helfen, Gemeindepsychiatrie zu einem Teil nachbarschaftlicher Normalität zu machen. Ein Fortbildungskurs, dessen Curriculum im Wesentlichen von Bürgerhelfern für Bürgerhelfer entwickelt wurde, soll Unsicherheit im Umgang mit psychisch erkrankten Mitbürgern abbauen und die eigene Kompetenz als Begleiter stärken. Die Rückmeldungen der Teilnehmenden sind überaus positiv. Der Kurs wird regelmäßig neu aufgelegt und ist immer ausgebucht.

Zuletzt hat der Landesverband mit dem von Heidehofstiftung und Allianz für Beteiligung Baden-Württemberg geförderten Projekt „Seelenbürger“ 2021 bis 2022 versucht, bürgerschaftlichem Engagement neue Impulse zu geben. Ziel des Projekts war es, ehrenamtliche Mitarbeit unter sich verändernden Strukturen und Anforderungen zeitgemäß und attraktiv zu gestalten und weiterzuentwickeln. In einem moderierten Workshop wurden Erfahrungen aus Regionen gesammelt und zusammengetragen, wo die aktuellen Herausforderungen gesehen werden. Zusätzlich konnten wir Mitgliedern anbieten, sie in Form fachlich begleiteter regionaler Modellprojekte dabei zu unterstützen, neue Ideen passend zu ihrer Situation zu entwickeln und auszuprobieren. Drei solcher Projekte wurden – begleitet vom Freiburger Beratungs- und Moderationsbüro „MemoU“ – in Freiburg, Ludwigsburg und Stuttgart durchgeführt. Ergebnis des einjährigen Projekts ist die Broschüre „Ehrenamtliche in der Gemeindepsychiatrie – Erfahrungen, Ausblicke, Neue Wege“. Sie stellt Organisationen oder Initiativen, die sich dem Thema Bürgerhilfe (wieder) verstärkt zuwenden wollen, die in den Regionalprojekten gemachten Erfahrungen zur Verfügung. (Broschüre)

Nach mehr als drei Jahrzehnten kann man feststellen, dass der Landesverband in der Psychiatrielandschaft gut vernetzt und auf Landesebene eine feste Größe ist. Er ist Mitglied des Landesarbeitskreises Psychiatrie des Sozialministeriums, hat dort aktiv an den Vorarbeiten zum PsychKHG Baden-Württemberg mitgewirkt und bringt sich bis heute in dessen Unterarbeitsgruppen aktiv ein. Er beteiligt sich organisatorisch und mit eigenen Themen an den Landespsychiatrietagen. Und er stimmt sich regelmäßig ab mit den Verbänden der Liga der freien Wohlfahrtspflege.

Besonders wichtig ist dem Landesverband Gemeindepsychiatrie die enge Zusammenarbeit mit den Landesverbänden der Psychiatrie-Erfahrenen und der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen, die oft auch zu gemeinsamen Stellungnahmen führt. Der Landesverband Gemeindepsychiatrie setzt sich für die Beteiligung von Psychiatrie-Erfahrenen und Angehörigen in allen Belangen der Gestaltung von Hilfen für Menschen mit psychischen Erkrankungen ein. Nach jahrelanger Vorarbeit der AG  Partizipation, die der Landesverband Gemeindepsychiatrie von Anfang an begleitet und unterstützt hat, ist es ein großer Erfolg, dass 2022 das Projekt „IPAGs – Interessenvertretung der Psychiatrie-Erfahrenen und Angehörigen im GPV stärken“ starten konnte. Der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg e. V. und der Landesverband Baden-Württemberg der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e. V. sind die Träger dieses von der Aktion Mensch geförderten Projekts zur Förderung der trialogischen Zusammenarbeit in den regionalen Gemeindepsychiatrischen Verbünden. Vorstandsmitglieder des Landesverbands Gemeindepsychiatrie arbeiten aktiv im begleitenden Projektteam von IPAGs mit.

Offener, partnerschaftlicher Dialog und Zusammenarbeit auf Augenhöhe in der fachpolitischen Lobbyarbeit und bei der Gestaltung von Hilfen und Angeboten werden auch weiterhin die Grundsätze unserer verbandlichen Arbeit sein. Denn für die Zukunft gilt mehr denn je:

„Gemeindepsychiatrie können Profis nicht alleine!“

Achim Dochat
Mai 2023